top of page

Sidonie Fernau im Gespräch mit Dr. Anna Punke-Dresen

Portraits über Menschen im gemeinnützigen Bereich findet man auch an anderer Stelle. Wir erinnern uns zum Beispiel an die „Köpfe“ in der Stiftungsbeilage der Wochenzeitung DIE ZEIT. Mit dieser Rubrik „Mensch des Monats“ möchten wir Menschen hinter einer Führungsposition besser kennenlernen. Dafür hat Dr. Anna Punke-Dresen diese Rubrik ins Leben gerufen.


Anna Punke-Dresen ist selbst seit über 15 Jahren in diversen Funktionen und Kontexten sowohl ehrenamtlich als auch hauptamtlich im gemeinnützigen Sektor unterwegs - unter anderem als stellvertretende Leiterin des Kreises Junge Menschen und Stiftungen, Community Lead für MentorMe, Vorständin von Hamburger mit Herz e.V. und aktuell als Leitung Fundraising der Stiftung Deutsch-Russischer Jugendaustausch.


Schreiben und gemeinnütziges Engagement sind die beiden Pfeiler, die ihren Werdegang prägen.

Mit dieser monatlichen Rubrik möchte sie einige spannende Personen aus ihrem Netzwerk in persönlichen Gesprächen fragen, wie und warum sie sich selbst im gemeinnützigen Bereich engagieren. Welche Ehrenämter werden zusätzlich zum Hauptamt gepflegt? Was treibt sie dazu an? Was bedeutet Engagement für sie und welche Learnings und Botschaften bringt das für sie mit?

 
Sidonie Fernau

Sidonie Fernau ist Geschäftsführerin des Paritätischen Kompetenzzentrum Nord GmbH. Zuvor arbeitete sie 9 Jahre für den PARITÄTISCHEN Wohlfahrtsverband Hamburg, für den sie als Teil der Geschäftsleitung zuletzt den Geschäftsbereich Soziale Innovation, bürgerschaftliches Engagement und Diversität leitete.


 

Liebe Sidonie, ich möchte in dieser Rubrik jedem*r Interviewpartner*in die gleiche Einstiegsfrage stellen: Wann und wo hast Du Dich zum allerersten Mal ehrenamtlich engagiert? Wie kamst Du dazu und was war Deine Motivation dahinter?


Bürgerschaftliches Engagement begleitet mich schon seitdem ich denken kann. Meine Mutter ist seit über 40 Jahren beim DRK engagiert. Sie war es, die großen Wert daraufgelegt hat, dass auch wir Kinder uns unseren Privilegien bewusst sind und diese für das Gemeinwohl nutzen.


Als ich 2007 nach Hamburg zog, um zu studieren, habe ich mir in meinen ersten Semesterferien ein Ehrenamt gesucht. Bei einem Träger der Eingliederungshilfe habe ich wochentags die Ausgabe von Lebensmittel, die wir von der Tafel bekamen, koordiniert und eine Kleiderkammer aufgebaut. Das war für mich eine sehr bereichernde Tätigkeit. Im Allgemeinen kann ich behaupten, dass ich durch mein Engagement unglaublich viel lernen durfte. Auch hat es mir ermöglicht, ein sehr breites und stabiles Netzwerk an Kontakten aufzubauen und die unterschiedlichsten Geschichten und Persönlichkeiten kennenzulernen.


"Meine Motivation mich zu engagieren, ist über die Jahre gleichgeblieben: der Anspruch Gesellschaft mitzugestalten, das Pflichtbewusstsein mich mit dem, was ich mitbringe, einzubringen und die Lust mit gleichgesinnten Menschen spannende Projekte umzusetzen."

Du setzt Dich sehr stark für die Themen Migration, Diversität, Interkulturalität und bürgerschaftliches Engagement ein, bist ehrenamtlich Bundesvorsitzende des Verbandes binationaler Familien und Partnerschaften, iaf e.V. sowie der Arbeitsgemeinschaft deutscher Familienorganisationen, AGF e.V und seit kurzem hauptberuflich Geschäftsführerin des Paritätischen Kompetenzzentrum Nord (PariKom) GmbH.

Was waren die wichtigsten Stationen Deiner Ehrenamtskarriere, was und wie hast Du gesellschaftlich dabei bewegt?


Es gab einige prägende Stationen – und vor allem Menschen, die mich geprägt haben. Zwei Stationen teile ich gerne mit den Leser*innen:

Ich bin mittlerweile seit 2009 beim Verband binationaler Familien und Partnerschaften, iaf e.V. engagiert. Wir sind der einzige bundesweit aufgestellte interkulturelle Familienverband in Deutschland. Wir arbeiten an der Schnittstelle von Migrations-, Bildungs-, und Familienpolitik. Im Verband habe ich gelernt gesellschaftliche Missstände, die an uns in Beratungen herangetragen wurden, als politische Forderungen zu formulieren. Ich habe gelernt, diese Forderungen auf Bundesebene zu verhandeln und Ergebnisse zurück in die Länderebene zu tragen. Etwas, wovon ich jetzt in meinem Hauptberuf profitiere. Insgesamt konnte ich mir durch die 10 Jahre, die ich Teil des Bundesvorstandes sein durfte, und auch jetzt als Bundesvorsitzende des Verbandes und Vorsitzende des bundesweiten Zusammenschlusses der Familienverbände ein wahnsinnig großes und belastbares Netzwerk aufbauen. Ich bin sehr dankbar dafür, dass ich in meinen verschiedensten Engagementfeldern so viele Menschen um mich herum habe, die mich, auch in meiner persönlichen Weiterentwicklung, immer begleitet und unterstützt haben – und das bis heute noch tun.


Ein zweites Beispiel: 2015 durfte ich – als hauptamtliche Angestellte, nicht als Ehrenamtliche – unsere sogenannte Tagesstätte für Transitgeflüchtete im „Biberhaus“ am Hamburger Hauptbahnhof leiten. Du erinnerst dich sicher an die Situation, als im Spätsommer 2015 täglich tausende Menschen zu uns an den Hauptbahnhof kamen – zumeist nicht, um in Deutschland ihren Asylantrag zu stellen, sondern um weiter zu reisen Richtung Skandinavien. Zeitgleich mit den geflüchteten Menschen kamen Hunderte von bürgerschaftlich Engagierte an den Hauptbahnhof: sie bauten Kleiderkammern auf, organisierten eine Essensversorgung, eine Begleitung für unbegleitete minderjährige Geflüchtete, koordinierten Schlafplätze – und auch wir als PARITÄTISCHER Wohlfahrtsverband haben uns eingebracht. Durch Aufbau einer medizinischen Versorgung und einer Kinderbetreuung sowie durch den Aufbau von Zelten auf dem Bahnhofsvorplatz bzw. das Anmieten von Räumlichkeiten als Unterstützer derjenigen, die Soforthilfe leisteten.

Die Angebote für die geflüchteten Menschen wurden durch die Freiwilligen umgesetzt: 300 Hamburger*innen, etwa ein Drittel von ihnen mit eigener, rezenter Fluchtgeschichte. Rückblickend betrachtet kann ich sagen, dass das Arbeiten mit diesen Menschen mich sehr bereichert hat. Ich habe viel über die Herausforderungen des Zusammenspiels zwischen Haupt- und Ehrenamt lernen können und darüber, wie Organisationen funktionieren. Die Zeit war sicher prägend dafür, wie ich innerbetriebliche Partizipation und Kommunikation in meinen eigenen Firmen lebe.


"Ich habe oft erlebt, dass Arbeitgeber Ehrenamt eher als Belastung zu einer angestellten Tätigkeit sehen. Das ist schade. Hier würde ich mir wünschen, dass neben der Fürsorgepflicht des Arbeitgebers dieser auch im Blick hat, wie gewinnbringend ein Ehrenamt für das Unternehmen sein kann."

Gab es Schlüsselmomente, die Dir gezeigt haben, dass Du gesellschaftlich etwas tun willst und musst? Und was sind Deine Ziele zurzeit?


Als ich kurz vor dem Abitur stand, habe ich im Einzelhandel gearbeitet. Es gab zwei Situationen, die ich auch heute teilweise beobachte, die ich schwierig fand:


Die eine spielte sich ab, wenn geflüchtete Menschen mit sogenannten Gutscheinen bei uns einkauften. Sie durften damit lediglich Dinge des „notwendigen persönlichen Bedarfs“ besorgen. Die*der Kassierer*in musste klingeln und eine vorgesetzte Person holen, die den Einkauf kontrollierte – was entsprechend Zeit in Anspruch nahm und dementsprechend zu genervten Reaktionen der Menschen beitrug, die sich in der immer länger werdenden Schlange an der Kasse einfanden.

Die zweite spielte sich jährlich kurz nach Weihnachten ab, wenn insbesondere muslimische Familien kamen und die reduzierte Weihnachtsschokolade kauften und hierfür Kommentare ernteten, die darauf abzielten herauszustellen, wie geizig sie seien.


"Als jemand, die mit mehreren Sprachen, Religionen und Kulturen aufgewachsen ist, wollte ich Brücken bauen. Das tue ich bis heute."

Derzeit beschäftige ich mich unter anderen mit den Themen diversitätsbewusste und rassismuskritische Familienpolitik sowie diversitätsbewusste und rassismuskritische Soziale Arbeit: Wie können wir erreichen, dass wir ein möglichst diverses Angebot von Dienstleistungen, Angeboten und Trägern der Sozialen Arbeit vorhalten können und wie erreichen wir, dass wirklich alle Menschen – unabhängig von Hautfarbe, Ethnie, Alter, sexueller Orientierung, Einkommen, etc. von diesen Dienstleistungen und Angeboten profitieren?


Von welchen Netzwerken profitierst Du heute noch und wie verzahnen sich vielleicht Haupt- und Ehrenamt bei Dir auch ineinander?


Wenn ich Menschen erzähle, was ich haupt- und ehrenamtlich tue, gucken mich diese oft unglaubwürdig an. Ehrlicherweise muss ich gestehen, dass ich all diese Positionen vor allem deshalb ausfüllen kann, weil sich Netzwerke, Gremien, Ansprechpersonen aus Politik- und Verwaltung, für die Themen zuständige Journalist*innen und selbst Kooperationspartner und Klient*innen überschneiden. Dabei standen mein Haupt- und Ehrenamt nie in Konkurrenz zueinander. Ich sehe sie eher als sich gegenseitig flankierend.


Es gibt viele Dinge, die ich in der praktischen täglichen Arbeit transferiere. Beispielsweise bin ich derzeit in meinem Hauptberuf dabei eine Personalsoftware einzuführen. Den Vergleich von Anbietern und das Abwägen von Für und Wider haben wir in meinem Ehrenamt ausgiebig diskutiert. So konnte ich enorm viel Zeit bei der Entscheidungsfindung einsparen.


Nun bist Du Geschäftsführerin des Paritätischen Kompetenzzentrum Nord GmbH. Was sind euer Auftrag und eure Vision, was hast Du vor?


Das Paritätische Kompetenzzentrum Nord wurde vor etwa 10 Jahren von den PARITÄTISCHEN Landesverbänden Hamburg, Bremen und Schleswig-Holstein als Beratungsunternehmen für die Sozialwirtschaft gegründet. Mittlerweile ist der Landesverband Hamburg 100%-Gesellschafter. D.h. alle Gewinne fließen zurück in die Arbeit der Freien Wohlfahrtspflege.


Derzeit sind wir dabei das Unternehmen neu aufzustellen. Zukünftig arbeiten wir in den Bereichen Expertisen für den Dritten Sektor, Fachkräftegewinnung, Führungskräfteentwicklung, Qualitätsmanagement und Beratung. Für nicht gemeinnützige Unternehmen der Wohlfahrtspflege haben wir die Dienstleistungen des Spitzenverbandes gespiegelt. So können diese sich untereinander in Trägerkonferenzen vernetzten und wir beraten und begleiten sie beispielsweise in der Entwicklung neuer KiTa-Flächen und begleiten sie in der Verhandlung von Pflegesätzen. Eines der Vorhaben, die mir besonders am Herzen liegt, ist die Gründung eines Providers, der sich auf Unternehmen unserer Branche spezialisiert. Zukünftig werden wir in diesem Rahmen Interim-Dienstleistungen anbieten. Beispielsweise zur Vakanzüberbrückung, Restrukturierung, für das Projektmanagement oder um Transformationsprozesse in Organisationen professionell anzustoßen und umzusetzen.


"Ziel ist es, dass den Organisationen ergänzende Dienstleistungen zum Spitzenverband anzubieten, damit diese ihre (soziale) Mission erfüllen können."

Wir kennen uns unter anderem auch darüber, dass Du neben all deinen Aufgaben zurzeit die frühkindliche Mehrsprachigkeit mit der Gründung der Organisation „Plappermäulchen“ und den Deutschspracherwerb geflüchteter Frauen und ihrer Kinder mit „Mamalies“ verfolgst? Wie kam es dazu und wie steht es um das bürgerschaftliche Engagement in diesem Bereich?


Mamalies ist eines der Unternehmen, die aus dem bürgerschaftlichem Engagement 2015 entstanden sind. 2018 hat sich Mamalies als gemeinnützige GmbH gegründet. Ich bin im Frühjahr 2020 als geschäftsführende Gesellschafterin hinzugestoßen. Meine Co-Gesellschafterin und Co-Geschäftsführerin Leyla Oehlrich kenne ich seit 14 Jahren – wir haben gemeinsam an der Universität Hamburg studiert. 2016 nahm sie Kontakt zu mir auf, weil sie Unterstützung bei der Gründung und der Umsetzung ihrer Ideen suchte. Die Gründungsberatung und die Begleitung übernahmen einer meiner Kollegen im PARITÄTISCHEN. Wir blieben aber in Kontakt. Seit 2020 verantworte ich den strukturellen Aufbau des Unternehmens und kümmere mich um die Bereiche Personal, Finanzen und Einrichtungen sowie wirtschaftliche Geschäftsbetriebe. Leyla Oehlrich übernahm als Gründerin die pädagogische Geschäftsführung.

"Ich bin absolut überzeugt von der gesellschaftlichen Vision, die Mamalies trägt und von dem Anspruch Frauen zu befähigen ihr Leben in Deutschland unabhängig zu gestalten – und dafür ist der Erwerb der deutschen Sprache unerlässlich."

Plappermäulchen haben Leyla Oehlrich und ich Anfang 2020 gegründet. Wir beide haben uns intensiv mit dem Thema Mehrsprachigkeit in der frühkindlichen Bildung auseinandergesetzt. Wir sind beide selbst mehrsprachig aufgewachsen und haben uns dem Thema theoretisch genährt: sie, in dem sie ein Buch zum frühkindlichen Spracherwerb schrieb, was diesen Herbst im Carlsen Verlag erscheint und ich als Bundesvorsitzende des Verbandes binationaler Familien und Partnerschaften.

Wir beide sahen den Bedarf eines Anbieters für den Erwerb von Mehrsprachigkeit bei Kindern zwischen 0 und 6 Jahren. Für uns war wichtig, dass auch dieses Unternehmen ein Sozialunternehmen ist. So werden die Sprachkurse durch die Universität geprüfte Muttersprachler*innen umgesetzt. Die Migrant*innen erfahren durch ihren Einsatz Wertschätzung für ihre Sprachkenntnisse, die sie mitbringen, vermitteln Kulturkenntnisse und können sich zu ihrer oft nur geringen Rente etwas hinzuverdienen.


Sowohl bei Mamalies als auch bei Plappermäulchen haben wir Ehrenamtliche eingebunden, die eine Aufwandsentschädigung erhalten. Wir sind wirklich überwältigt von dem Engagement und den Anfragen, die uns fast täglich erreichen.

 

3 Antworten in einem Satz


Welches Buch hast Du bzgl. Ehrenamt oder auch den Feldern, in denen du dich engagierst, gelesen, das dich nachhaltig beeindruckt hat?

Ein Buch, das ich im Rahmen meiner Arbeit gelesen habe und was mich sehr fasziniert hat: Reinventing Organizations – Ein Leitfaden zur Gestaltung sinnstiftender Formen der Zusammenarbeit. Von Frederic Laloux.


Wenn Du einen Wunsch für den gemeinnützigen Sektor frei hättest, welcher wäre das?

Für die Wohlfahrtspflege wünsche ich mir mehr Mut und mehr Offenheit branchenübergreifende Lösungsansätze zu pilotieren.


Was möchtest Du unseren Leser*innen mit auf den Weg geben? Was ist dein Credo?

Ich habe gelernt, für meine Überzeugungen einzustehen und für meine Vision eines „guten Zusammenlebens“ zu streiten. Dennoch bin ich davon überzeugt, dass es wichtig ist, seine eigene Überzeugung nicht absolut zu setzen und sich eine gewisse Offenheit für Sichtweisen und Argumente des Gegenübers beizubehalten. Unserem Gegenüber wirklich zuhören. Nicht, um zu erwidern, sondern um zu verstehen, um dann gemeinsam nach der besten Lösung zu suchen. Ich denke, wenn wir mit einer solchen Haltung in Gespräche und Auseinandersetzungen gehen, kann das für den Output oft ein Gewinn sein.

 
Sidonie Fernau

Sidonie Fernau

Geschäftsführerin

PARITÄTISCHES Kompetenzzentrum Nord GmbH


Co-Gründerin & Geschäftsführende Gesellschafterin

Plappermäulchen UG


Geschäftsführende Gesellschafterin

Mamalies gGmbH

bottom of page